Zwar hatte der damals 56-jährige Münchner Repro-Unternehmer ein übers bloße Laufen hinausgehendes Ziel: Er bereitete sich für einen 26-Stunden-Non-Stop-Vergleich auf La Réunion im Indischen Ozean vor.
Doch wer tut sich so etwas schon an, vorausgesetzt, er glaubt überhaupt ans Durchkommen? Reitmeir zählte zu den ersten 90 von 1800 Teilnehmern. Eine solche Ausnahmekonstitution gehört offensichtlich zu den Voraussetzungen, um sich fürs Berglaufen leidenschaftlich zu begeistern. Reitmeir nennt das "die optimalen Kraft-Last-Verhältnisse" seines Körpers. Er ist ein eher schmächtiger Mann. Doch im Blick liegt diese unbeugsame Energie, eine Besessenheit, wie man sie von Triathleten kennt.
Würde man Reitmeirs sportliches Tun dem radikalen Selbstzwecktest unterziehen und die mit Pokalen, Medaillen und Urkunden übersäten Wände in seinem Truderinger Haus abräumen, er würde sicher einschreiten. Metall und Papier weisen den vielfachen Deutschen Seniorenmeister auch als Seniorenweltmeister 2002 und 2004 aus. Zwar lässt der Erfolgsläufer abschätzig eine seiner Siegestrophäen durch die Hände gleiten und sagt: "Das kann man mir wegnehmen."
Doch hochalpine Rennerei, die "zu fünfzig Prozent Schinderei ist", nur um ihrer selbst willen? Helmut Reitmeir beschreibt den wahren Beweggrund seiner Berglaufpassion so: "Das Erlebnis im Kopf behalten, das macht so viel Spaß", sagt er und: "Die Erinnerung, die kann man mir nicht nehmen."
Dabei fällt ihm der erwähnte Ultra-Berglauf ein. Ein Extrem-Lauf an letzte, körperliche Grenzen. Aber auch ein Lauf durch atemberaubend schöne, tropische Landschaften mit ihrem je nach Höhenzone fast gegensätzlichen Charakter. Ein Nachtlauf unter blinkendem Sternenhimmel, das All schien sich zu öffnen und es kam dem adrenalinumspülten Hirn Reitmeirs so vor, als rühre es am Geheimnis von Kosmos und Natur. Doch es gibt bei Helmut Reitmeir auch eine Schärfe, die an Bergextremisten wie Reinhold Messner erinnert. Den supersteilen Glaslhang am Wallberg wolle er demnächst hinaufrennen, betont er hart. Pathos schwingt mit.
Damit auch jedem klar ist: Hier handelt es sich um eine bergläuferische Pioniertat. Wie oft bei Extremsportlern weiß man auch bei Reitmeir nicht genau: Ist Ehrgeiz oder Potenzial die größere Triebfeder? Jedenfalls ist der sensible Naturmensch Reitmeir auch ein Einzelkämpfer, der es sich selbst beweisen will und dabei nicht nur das Außergewöhnliche der Erlebnisse, sondern auch der Ergebnisse genießt.
Helmut Reitmeir fängt in den 50er-Jahren mit dem Laufen an. Da sagt man statt Joggen noch Dauerlaufen. Ein Volksmarathon ist damals noch eine Veranstaltung für Exoten. Nach dem vierten oder fünften Marathon fühlt sich Reitmeir als richtiger Läufer. Bis heute hat er die Langstrecke 60 Mal hinter sich gebracht.
Bergauf geht es zum ersten Mal während der Militärzeit bei den Gebirgsjägern. Initialzündung aber wird ein TV-Portrait über Messner. Der Film zeigt, wie sich der Südtiroler im Heimatort St. Peter beim Bergauflaufen auf seine spektakulären Achttausender-Alleingänge vorbereitet. Anfangs skeptisch, mit wachsendem Erfolg aber immer ehrgeiziger, macht es Reitmeir dem Superalpinisten zumindest beim Konditionstraining nach. Andere Läufer ziehen mit. Seit den 80er-Jahren rangiert Berglaufen als eigene Disziplin unterm Dach des Deutschen Leichtathletikverbandes (DLV).
Noch heute, mit 61, rennt Reitmeir zum Training mehrmals täglich auf den Wendelstein. Nach dem ersten Bergmarathon 1993 in der Schweiz grast der Münchner das wachsende Wettlaufangebot in den Alpen ab. Dann warten die Anden. Mutterseelenallein und in Tagesetappen durchquert er Bergzüge in 5000 Meter Höhe auf dem uralten Wegenetz der Inka. Körperliche und mentale Kraftgrundlagen verbessern sich immer weiter. Der zweifache Weltmeistertitel überrascht da kaum.
In der weltweiten Bergläuferszene genießt Helmut Reitmeir heute viel Ansehen. Das zeigt sein erfolgreicher Internetaufruf zum Boykott der Berglauf-Weltmeisterschaften, die gerade in England und Neuseeland stattfanden. Reitmeir und mit ihm die meisten Läufer wollen den Sport unverfälscht bewahren: Als Bergauflauf im Hochgebirge und nicht als Hügelspaziergang auf Straßen mit gesundheitsschädlichen, langen Bergab-Passagen.
Aus Protest richtet der Weltmeister 2006 jetzt selbst Europameisterschaften aus. Der vom Boykott verärgerte DLV habe das sofort verbieten wollen. Doch da habe er auf den kleinen, aber programmatischen Unterschied im Titel seiner Sportveranstaltung hingewiesen: Sie heißt nicht Berglauf-, sondern Berglaufpur-Europameisterschaft.
MAX FREISLEDER |